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Gedanken bei einer Straßenbahnfahrt

Ein heißer Sommertag - Mittagszeit.

Ich fuhr mit der Straßenbahn durch die Stadt. Die drückende Luft in der Tram ermüdete. Plötzlich, an einer Haltestelle der Innenstadt, stürmten fast erwachsene Schüler mit großen Rucksäcken und sich laut unterhaltend herein. Sie belegten die noch freien Sitzplätze. Na gut, ich saß ja bequem.

Jedoch an einer der nächsten Haltepunkte ging die Tür auf und eine schon betagte Frau mit zwei vollen Taschen stieg schwer atmend die Stufen hoch. Kein Platz mehr frei? Sie blickte in die Runde, aber keiner der Jugendlichen stand auf.

Da musste ich an ein Erlebnis denken, das viele Jahre zurück lag. Meine Enkeltochter wurde 1989 eingeschult und bald danach feierlich bei den Jungpionieren, so nannte sich die Kinderorganisation in der DDR (Deutsche Demokratische Republik), in der Kinder vom ersten bis vierten Schuljahr Mitglieder waren, aufgenommen.

1990, im Jahr nach der Wende, die Kinderorganisation gab es nicht mehr, saßen wir beide, meine Enkeltochter und ich, auch in einer vollen Straßenbahn und sahen, wie eine alte Dame einstieg und sich nach einem freien Platz umschaute.

Das Mädchen an meiner Seite flüsterte mir ins Ohr: "Wir sind ja jetzt keine Pioniere mehr, darf ich trotzdem meinen Platz anbieten?"

Sie hatte nicht vergessen, was sie in der Pionierorganisation gelernt hatte - alten Leuten zu helfen.

Und wie ist es heute? Zufall, dass keiner der sitzenden Mädchen und Jungen sich gemüßigt fühlte aufzustehen?

Bei allein fahrenden Jugendlichen habe ich schon oft Hilfsbereitschaft gesehen, warum nicht in der Gruppe?

Also stand ich auf, selbst mit einer Sitzplatzberechtigung in der Tasche. Mein angebotener Platz wurde dankbar angenommen.

 

Kleine Freuden in schwerer Zeit

Advent - diese Zeit musste auf meine Mutter eine besondere Faszination ausgeübt haben. Jedes mal begann es am Sonnabend vor dem ersten Advent. Sie verzauberte unser Haus mit allen seinen Räumen, schmückte sie mit Tannengrün, roten Kugeln und Kerzen aus. Es hatte für mich etwas Überwältigendes. Später, so dachte ich oft, machst du es genau so. Ich habe mir immer große Mühe gegeben, aber nie diese Schönheit mit einer solchen Ausstrahlungskraft erreicht.

Adventszeit - hinzu kamen auch die köstlichen Weihnachtsbäckereien meiner Mutter, die durch ihren herrlichen Duft schon vor dem Fest zum Naschen verführten. So musste immer zwei- bis dreimal gebacken werden, um noch genügend Gebäck für die bunten Weihnachtsteller zu haben. Stolle gab es bei uns nie, Dafür Blechkuchen, die von uns Kindern zum Bäcker gebracht und dort abgebacken wurden. Unterwegs naschten wir immer von den Streuseln.

Kurz vor dem Fest mussten die Gänse und Enten ihr Leben lassen. Vorn Frühling bis zum Dezember begleiteten sie uns durch das Jahr. Besonders anhängliche Tiere erhielten Namen wie Emma, Helene, Luise oder Mariechen. Wir hatten sie lieb gewonnen und kamen nicht umhin, mitzuerleben, wie sie als Festtagsbraten vorbereitet wurden. Ein wenig traurig waren wir schon. Geschlachtet und sorgfältig gerupft hingen sie dann im Speisekeller. Einige verkaufte meine Mutter, das brachte Geld ins Haus.

Nach dem Krieg alleinerziehend wie so viele Frauen, hatte sie es nicht leicht mit zwei ständig hungrigen Kindern und einer abzuzahlenden Hypothek, die noch auf unserem Häuschen lastete.

"Weihnachten", sagte meine Mutter immer, "gehört jeder nach Hause." Weihnachten bedeutete für sie Besinnung, Rückschau und Freude bereiten.

Großvater und ein Onkel, die in unserer Familie lebten, waren, wie auch unser Vater, nach dem Krieg nicht nach Hause gekommen.

Es muss 1947 gewesen sein, draußen herrschte eine lausige Kälte und wir hoff ten, dass einer der Männer anklopfen und vor der Tür stehen würde, Mutter, mein Bruder und ich, jeder mit Träumen über ein Wiedersehen - vergebens.

Mutter, Bruder und ich hatten den Tannenbaum geschmückt und die Kerzen angezündet. Als Vater noch bei uns war, schmückte er immer den Baum und wir durften das Meisterwerk, das vom Fußboden bis zur Decke reichte, erst zur Bescherung sehen. An diesem Weihnachtsabend kamen die Weihnachtslieder aus dem Radio, sonst hatte der Vater auf der Mandoline gespielt, und wir sangen dazu, ehe es die Geschenke gab.

Der Weihnachtsbaum, frisch aus dem Wald geholt, duftend nach Harz und frischer Tanne, behängt mit roten Kugeln, silberglänzendem Lametta und besteckt mit weißen Kerzen, sah wunderschön aus. Noch heute gestalte ich in der gleichen Art den Baum und hole ein Stück Kindheit und Erinnerungen in die Wohnung.

Mutter hatte wieder alles getan, um uns zu überraschen. Für sie war wichtig, dass wir unter dem Verlust des Vaters nicht zu leiden hatten. Pullover, dicke Socken und Unterwäsche, alles aus aufgetrennten Zuckersäcken oder aus der "Spinne", einer Fabrik in Zehlendorf. Über dort arbeitende Dorfbewohner war preisgünstig an Strickgarn zu kommen. Dann kam die größte Überraschung des Abends. Langsam zog Mutter das Tischtuch zurück, das die Geschenke verbarg und ein schönes Schachspiel kam zum Vorschein. Ein Geschenk für uns drei. Sie war immer der Meinung, Weihnachten sollten Groß und Klein spielen. Die Figuren des Schachspiels waren aus anschaulich geformter brauner und weißer Keramik. Sie waren für uns die Krönung des Festes und das Spiel des Abends. Mutter erzählte uns, sie habe in Berlin eine unserer Gänse verkauft. Das Geld dafür noch in der Tasche, zog ein Schaufenster ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Darin stand ein aufgebautes Schachspiel mit geschnitzten Figuren aus Elfenbein. Die Bauern mit zierlichen Sensen, die Springer anmutige Pferde, ein wunderschönes Königspaar. Sie kam damals und auch später immer wieder ins Schwärmen und ihre Augen strahlten in Erinnerung an dieses Meisterwerk.

Mutter konnte es natürlich nicht bezahlen, es war für sie unerschwinglich. Statt dessen kaufte sie uns dieses Keramikschachspiel und bereitete uns auch damit eine große Freude.

Als Alleinstehende machte Mutter den 27. Dezember in jedem Jahr zu einem besonderen Feiertag. Vom gleichen Schicksal betroffene Frauen aus der Nachbarschaft und aus ihrem Arbeitskollektiv wurden von ihr zu einer gemeinsamen Nachfeier des Weihnachtsfestes eingeladen. Sie, die selbst nicht viel hatte, war ständig bemüht, anderen Freude zu bereiten. Allerdings durfte auch der Mann einer Nachbarin dabei sein. Albert, so hieß er, war in dieser schweren Zeit immer bereit, den alleinstehenden Frauen zu helfen. Bestimmt war er es auch gewesen, der unseren schönen Weihnachtsbaum aus dem Wald holte.

Es kamen meistens fünf bis sechs Frauen zusammen. Ihnen ging es sicherlich nicht um ein gutes Essen, Delikatessen gab es sowieso nicht, das Wichtigste war wohl, füreinander da zu sein, Aufmerksamkeit, Wärme und Gemeinsamkeit.

Wenn ich heute so darüber nachdenke, frage ich mich, woher hat meine Mutter nur die Kraft genommen, mit all ihren eigenen Sorgen noch anderen Leuten Freude zu bereiten?

Wenn man dann zur vorgerückten Stunde auseinander ging, verabredeten sich alle für den Januar zum Federn reißen.

Kleine Freuden in schwerer Zeit!

 

Brief an Robert

Lieber Robert, ich denke immer noch über unser Zusammensein vor einiger Zeit nach. Wir saßen im Wohnzimmer und sahen uns das Fotoalbum von Opas Armeezeit als NVA-Offizier an. NVA, das war die Nationale Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik (DDR genannt), welche als ein Teil Deutschlands bis 1990 existierte.

Du hattest den Wunsch, Bilder aus dieser Zeit zu sehen. Du sagtest, dass auch du Soldat werden möchtest, wenn du älter bist. Dein Wunsch als Neunjähriger sei es, richtig schießen zu lernen, um Verbrecher stellen zu können.

Die Fotos zeigten, wie Opa erst die Offiziersschule besuchte, wie er bei manchen Übungen aussah und später als Offizier. Es brauchte lange Jahre für die Ausbildung. Das alles ist durch die Bilder belegt.

Am Schluss unserer Betrachtungen warst du enttäuscht, wenn ich dich richtig verstanden habe, dass dein Opa nicht in einem Krieg gekämpft hat.

Darüber, lieber Robert, möchte ich noch ein bisschen sprechen.

Nicht in einem Krieg gewesen sein, das ist das Beste, was deinem Opa und uns, seiner Familie, passieren konnte. Das weiß ich aus eigenem Erleben.

Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, da waren Opa und ich erst zehn und neun Jahre alt. Dein Opa lebte zu dieser Zeit mit seinen Eltern und Geschwistern im damaligen Sudetenland. Weil Deutschland mit diesem Krieg ein großes Unrecht begangen und ihn letztendlich verloren hatte, musste Opas ganze Familie ihre Heimat verlassen. Sie durften nur mitnehmen, was sie tragen konnten. Überlege einmal, was du tragen kannst. Es ist nicht viel. Kannst du dir vorstellen, keine Wohnung, kein Spielzeug und kaum etwas zum Essen zu haben? Nicht wissen wohin?

Ich wohnte damals in Ruhlsdorf, einem kleinen Ort vor Berlin, in dem Haus, in dem jetzt der andere Robert lebt, den du schon kennen gelernt hast. Ein Bombenangriff zerstörte alles in einer Nacht. Es war schrecklich, davor zu stehen und zu sehen wie alles verbrennt, kein zu Hause, kein Bett mehr zu haben.

In diesem furchtbaren Krieg wurden mein Vater, mein Opa und mein Onkel, die beide in unserer Familie lebten, getötet. Mein Vater war gerade einundvierzig Jahre alt, er hätte sein Leben noch vor sich gehabt, und er fehlte uns so sehr.

1945 - endlich das Ende dieses schrecklichen Krieges. Weil aber im Krieg viele Felder unbestellt blieben, gab es auch nur wenig zu ernten. Wir hatten immer Hunger. Aus Brennesseln, Melde und Butterstauden, eigentlich alles nur als Unkraut bekannt, bereitete meine Mutter für uns Salat. Probiere es einmal, mir schmeckte es gar nicht. Doch der Hunger zwang uns, es zu essen.

So erging es uns nach dem Krieg. Während des Krieges träumte ich davon, wieder einmal soviel Brötchen mit Butter und Marmelade zu essen, wie ich wollte. Nach dem Krieg gab es nicht einmal genug trockenes Brot, aber wir mussten nicht mehr jede Nacht, weil Fliegeralarm war, in den Bunker flüchten und konnten wieder ohne Angst normal im Bett schlafen.

Nach diesem Krieg schworen sich fast alle Menschen: "Nie wieder Krieg!" Dafür wollten sie auf vieles verzichten, sich immer für den Frieden einsetzen. Dein Opa ging deshalb zur Armee, um dafür einzustehen. Keiner sollte unser Land angreifen. Von allen, die für Frieden einstanden, ging die Forderung aus, dass von Deutschland nie wieder ein Krieg ausgehen darf. Deshalb konnten deine Eltern und deine Geschwister in Frieden spielen, lernen und erwachsen werden. Weil es keinen Krieg gab, haben wir unseren Opa heute noch.

Meinst du jetzt nicht auch, dass es viel schöner ist, dass Opa nie in einen Krieg musste?

Ich möchte, dass du erkennst, dass Kriege etwas Schreckliches sind und du auch schon als Kind im Frieden leben willst. Versprichst du mir, darüber nachzudenken?

Du hast bestimmt noch viele Fragen. Wenn du wieder einmal bei uns bist, können wir weiter darüber reden. Ich freue mich darauf.

Für heute grüßt dich ganz lieb, deine Oma

 

Traumzeit oder Zeit zum Träumen

Ganz leise Musik erklingt und ich versuche mir vorzustellen, ich gehe eine große, breite Treppe hinunter, immer tiefer und tiefer, atme ganz ruhig. Eine bunte Wiese empfängt mich am Ende, ich durchschreite sie. Diese Wiese wird auf der einen Seite begrenzt von einem noch niedrigen Getreidefeld, durchwogen von blauen Korn- und roten Mohnblumen - auf der anderen Seite von einem Rapsfeld -leuchtend gelb, als wäre die Sonne vom Himmel gekommen. Der Duft umhüllt mich, macht müde. Ich fange an zu träumen.

Es wäre wunderschön, wieder gesund zu leben, zu reisen wann und wohin immer ich will. Weit weg, in abgelegene Berge, dem Himmel nahe sein. Mit geschlossenen Augen leichten Sommerregen auf der Haut spüren, Vögel zwitschern hören und summende Bienen und Mücken wie eine Melodie wahrnehmen. Durst verspüren und einen großen Krug kalte Milch gereicht bekommen. Gierig alles trinken, frisches Schwarzbrot mit dickem Käse essen und viele, viele Früchte.

Dann wieder, einfach so, aus Übermut, auf einen Felsen klettern und von dort das für mich unendliche Meer zu sehen, den Wind spüren und das Salz riechen. Ich kann mit meiner Sehnsucht machen, was ich will. Es gibt kein "du darfst nicht!" oder "du kannst nicht!" Ich kann alles. im Hintergrund Kinderstimmen meine Kinder?

Ich kann fliegen, soviel ungebändigte Kraft kommt aus der Erde, von überall her. Ich könnte Berge versetzen, breite meine Arme aus und springe ins weite All. Keiner sagt, du musst. Alles ist meine Entscheidung.

Langsam, ganz langsam komme ich zurück. Ohne die Augen zu öffnen, greife ich ins Gras und bin glücklich, denn diese Wiese und der Duft sind Wirklichkeit, dieser Augenblick gehört mir.

Lange liege ich so. Dann öffne ich die Augen. Meine Hände haben die Decke von meinem Bett ergriffen, bin fest verankert - ich liege an der Dialyse.

Traumzeit oder Zeit zum Träumen?




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